„The Bird is freed“, oder: Wenn eine Privatperson die freie Meinung bestimmt
Mit den Worten „The Bird is freed“ proklamierte Elon Musk seine Übernahme des Microblogging-Dienstes Twitter für 44 Milliarden US-Dollar. Für den Milliardär sollte der Kauf der Plattform zu einer Stärkung der freien Meinung des Einzelnen führen. Aber ist es auch dazu gekommen?
Was ist passiert?
Seit der Übernahme von Twitter hat dieser nicht nur die gesamte Führungsetage entlassen, sondern auch einen großen Teil der sonstigen Beschäftigten, welche zum Teil inmitten von Meetings aus ihren Systemen ausgesperrt wurden. Unter dem Hashtag #TwitterLayoffs finden sich für die Entlassungen gute Beispiele, zu einem guten Teil auch von ehemaligen Beschäftigten des Unternehmens, die im Rahmen dieser Entlassungswelle per E-Mail von ihrer Kündigung erfahren haben. Dabei wird auch deutlich, wo Musk im Besonderen den Rotstift angesetzt hat.
Elon Musk has fired the Curation team, the Human Rights team, and the Ethics, Transparency, and Accountability team.
— Will Chamberlain (@willchamberlain) November 4, 2022
Nothing of value was lost.#TwitterLayoffs pic.twitter.com/1WuGNoomO6
Gleichzeitig ist die Verwendung bislang verpönter, rassistischer Begriffe explosionsartig angestiegen. Auf der anderen Seite ändert Musk die Verifizierungsstandards und bietet den blauen Haken künftig im Abo-Modell, wobei die Authentizitätsprüfung der Twitter-User wegfällt. In Folge dieses ganzen Chaos rund um die Umstrukturierung des Dienstes entscheiden sich immer mehr Unternehmen dafür, auf Twitter keine Werbung mehr zu schalten – ein Schritt, in welchem der Tesla- und SpaceX-Chef einen Angriff auf die freie Meinung sieht, was wiederum ein Nährboden für rechte Demagogen darstellt:
Thank you.
— Elon Musk (@elonmusk) November 4, 2022
A thermonuclear name & shame is exactly what will happen if this continues.
Was soll das alles?
Dass Elon Musk derzeit eine der am stärksten polarisierenden Persönlichkeiten ist, ist keine neue Meldung. Für seine Fans ist er die Personifizierung des Marvel-Helden Tony Stark, für andere ist er der nächste Bond-Schurke. Wie man ihn tatsächlich kategorisieren möchte, bleibt letztlich jedem Individuum selbst überlassen; meine Meinung über ihn steht seit längerem fest, soll aber an dieser Stelle nicht zum Dreh- und Angelpunkt des Blogposts werden. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle stärker auf das Framing Musks eingehen: Durch die Behauptung, dass diese Unternehmen die Meinungsfreiheit in den USA zerstören wollen, impliziert Musk, dass Twitter die ultimative Plattform zur Äußerung einer freien Meinung darstellt.
Eine solche Suggestion ist aber komplett irreführend: Auch wenn verschiedene Juristen gerne vertreten, dass soziale Medien wie Facebook oder Twitter eine Art virtueller Öffentlichkeit darstellen, halte ich die dahinter stehende Argumentation für nicht haltbar.
Was ist Öffentlichkeit, und warum ist gerade die Social Media-Welt keine?
Der Begriff der Öffentlichkeit wird nicht einheitlich definiert. Wikipedia definiert den Begriff als „Gesamtheit der potenziell an einem Geschehen teilnehmenden Personen„. Verfassungsrechtler wie Schliesky sehen in ihr eher „einen Zustand allgemeiner Zugänglichkeit nicht privater und nichtvertraulicher Kommunikation und formeller Publizität politischer Prozesse“ (Schliesky in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 42 GG, Rn. 14). In anderem Kontext wird Öffentlichkeit auch als „größeren, durch persönliche Beziehungen nicht verbundenen Personenkreis“ dargestellt (Anstötz in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2021, § 86a StGB, Rn. 23). Ob man die Öffentlichkeit nun eher als Personenkreis oder als Zustand ansieht, ist letztlich unerheblich; wichtig ist, dass die Definitionen durchaus einige Gemeinsamkeiten hegen:
– ein größerer Personenkreis ist erforderlich
– dieser Personenkreis hat keine persönlichen Beziehungen untereinander
Schon der letzte Punkt steht in einem Widerspruch zum Grundgedanken von sozialen Medien. Gerade mit Blick auf den häufig synonym verwendeten Begriff „soziales Netzwerk“ wird deutlich, dass gerade der Aufbau oder die Pflege von Kontakten der ursprüngliche Zweck sozialer Netzwerke darstellt, was auch an der Definition sozialer Netzwerke im Online-Lexikon von Gabler deutlich wird. Mitglieder sozialer Netzwerke knüpfen Kontakte untereinander, sie vernetzen sich. Daraus lässt sich zwar nicht schließen, dass eine engere persönliche Beziehung zwischen den Nutzenden entsteht. Dennoch lässt sich sagen, dass eine solche Vernetzung in den meisten Fällen aufgrund von persönlichen Beziehungen oder ähnlichen, wenn nicht gemeinsamen Interessen erfolgt. Auch der Status eines „Followers“ oder „Abonnenten“ ist eigentlich nur ein Indiz dafür, dass die folgende Person zumindest ein Interesse an den Inhalten hat, welche die abonnierte (oder gefolgte) Person publiziert.
Aus meiner Sicht ein wesentlich deutlicheres Indiz, was gegen eine Öffentlichkeit spricht, ist jedoch das Phänomen der Filterblase. Basierend auf den eigenen Interessen entscheiden Algorithmen, dass wir immer mehr Postings angezeigt bekommen, die unseren eigenen Präferenzen entsprechen. Was eigentlich gedacht war, um Suchergebnisse zu optimieren, hat letztlich auch zwei andere Nebeneffekte:
1) Unternehmen können basierend auf diesen Informationen personalisierte Werbung platzieren
2) Durch das repetitive Anzeigen von Inhalten, die den eigenen Interessen entsprechen, kapseln sich User ab – eine Blase entsteht, in welcher sich die Meinungen der Blasenmitglieder derart potenzieren, dass sie glauben, dass die Inhalte ihrer eigenen Blase ein verbreitetes Meinungsbild darstellt – und das nur, weil sie keine andersweitigen Informationen zu Gesicht bekommen.
Vor allem sollte man aber auch bedenken, dass soziale Netzwerke immer jemanden gehören, und dieser jemand verfolgt immer auch eigene Ziele. Das Ziel eines solchen Netzwerkes besteht für den Inhaber nicht darin, die freie Meinung und deren Austausch zu fördern, sondern einen Profit aus seinem Produkt herauszuschlagen. Je mehr Nutzende eine Plattform hat, je mehr Informationen über die Nutzenden bekannt sind, desto besser lassen sich diese Daten monetarisieren. Und wer sich den Werbeplatz kauft, kann dann darüber seine freie Meinung publizieren und damit die Meinung anderer manipulieren.
Was hat es dann mit der freien Meinung auf sich?
Man stelle sich also die Filterblase etwas wie den Stammtisch in der Kneipe vor: Personen mit gleichen Interessen und gleichen Ansichten diskutieren Themen aus ihrer Perspektive, und alle anderen Beteiligten stimmen den Aussagen des Redners zu. Die freie Meinung, die auch von Musk so propagiert wird, dient dabei nicht dem offenen Diskurs und der Debatte; vielmehr besteht das Ziel darin, den Diskurs zu verrohen. „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ ist die Schlüsselphrase jeder Stammtische, und auch Nutzer sozialer Medien verwenden diese Phrase, um auf diese Weise eine abwertende Polemik zu legitimieren. Die gewollte freie Meinung umfasst also das Recht, frei von jeglicher Konsequenz pöbeln und die Anhänger abweichender Ansichten nach Herzenslust diskreditieren zu dürfen.
Wie verschärfen die angestrebten Veränderungen an Twitter diese Problematik?
Bereits unter der Leitung von Twitter-Mitbegründer Jack Dorsey und seinem Nachfolger Parag Agraval konnte der Microblogging-Dienst Vorwürfe, nicht genug gegen Hatespeech zu unternehmen, nicht aus dem Web räumen. Verschiedene Gesetze, wie u.a. das NetzDG in Deutschland, haben Dienste wie Twitter dazu angehalten, aktiv gegen Hassrede und kriminelle Handlungen vorzugehen. Dennoch werden viele Postings trotz Beschwerden und eigentlich eindeutiger Rechtslage nicht entfernt, während andere User davon berichten, dass sie basierend auf Suchalgorithmen allein wegen der Verwendung bestimmter Triggerbegriffe von der Nutzung der Dienste ausgeschlossen worden seien: Unter dem Hashtag #Twittersperrt finden sich hierzu verschiedene Beispiele.
Die sich bereits zeigende, weitere Verrohung des Diskurses auf Twitter zeigt, dass der Dienst unter seinem neuen Eigentümer auf die weitere Verfolgung von Hassrede und Ehrdelikten zu verzichten scheint. Ob und inwieweit dies mit der Gesetzeslage in Einklang zu bringen ist, auch vor dem Hintergrund des kommenden Digital Services Act, bleibt abzuwarten.
Die Veränderung des Verifizierungsstatusses dürfte aber zu einem größeren Problem werden: Bislang war der blaue Haken ein Zeichen dafür, dass die Person oder die Institution, die den Account betreibt, „echt“ ist, die Follower also keinem Betrüger aufgesessen sind. Wenn dieses etablierte System jetzt durch ein Abosystem abgelöst wird, wird am Ende die Kredibilität der Plattform leiden: User können dann nicht mehr unterscheiden, ob der Account der wahren Person oder der realen Institution gehört, oder ob ein Betrüger sich das blaue Häkchen und damit die dazugehörige Glaubwürdigkeit gekauft hat. Zusammen mit dem Plan, dass Posts von Usern mit Bezahlkonto priorisiert angezeigt werden sollen, ist das eher ein Hinweis darauf, dass das Ziel nicht darin besteht, eine wirklich freie Meinung zuzulassen, sondern die Schaffung von Filterblasen zu fördern und zu monetarisieren.
Was kann ich als Individuum dagegen tun?
Einer der wichtigsten Punkte besteht darin, sicherzustellen, dass immer die neuesten Tweets angezeigt werden und keine Tweets nach eigener Präferenz. Dies lässt sich im Webbrowser durch das Sternensymbol rechts über „Was gibt’s Neues?“ leicht einstellen:
Ein User, der allerdings aus seiner/ihrer Filterbubble ausbrechen will, sollte sich jedoch überlegen, ob zentralisierte Plattformen wirklich der richtige Ort sind, um sich mit anderen Personen auszutauschen. Mit Mastodon erhält derzeit ein dezentraler Microblogging-Dienst viel Zulauf, auch wenn viele neuere Nutzer darüber verwundert sind, dass die Usability nicht so hoch ist wie bei einer zentralisierten Plattform eines IT-Konzerns mit mehreren tausend Angestellten – zumindest vor der Entlassungswelle. Allerdings ermöglicht dieser Dienst (zumindest derzeit) immer noch den freien Austausch zwischen seinen Nutzenden, ohne filternde Algorithmen oder Werbeunterstützung. Die Server werden größtenteils von Privatleuten auf eigene Kosten betrieben, und die Contentmoderation erfolgt über die Community, nicht über eine Unternehmen mit intransparenten Compliance-Richtlinien.
Bisweilen lese ich von Forderungen, dass die öffentliche Hand (also der Staat, die EU o.ä.) ein eigenes, aus öffentlichen Geldern finanziertes soziales Netzwerk aufmachen soll, welches einen offenen Diskurs ohne Beeinflussung durch kommerzielle Interessen des Plattformbetreibers ermöglicht. Aber seien wir mal ganz ehrlich: Warum sollten Entwickler mit entsprechender fachlicher Erfahrung zur Entwicklung eines solchen Produkts für die öffentliche Hand arbeiten, wenn ihre Fähigkeiten in der freien Wirtschaft finanziell besser honoriert werden? Idealismus in allen Ehren, aber gerade in der IT-Welt gibt es eine so große Nachfrage nach Fachkräften, dass sich diese Fachkräfte ihre Expertise fast überall vergolden lassen können – außer natürlich im öffentlichen Dienst.
Zudem müsste man auch bei einer solchen Plattform die Frage stellen, nach welchen Kriterien die freie Meinung begrenzt wird, wo also die Grenzen verlaufen, ab wann Beiträge entfernt werden, und ab wann Benutzer von der Verwendung der Plattform auszustoßen sind. Oder ob sie überhaupt gesperrt werden können. Müssen diese Nutzer wiederholt strafrechtlich relevante Inhalte posten? Und was tun bei Fake News oder unerwünschter Propaganda? Beides ist ja nicht grundsätzlich verboten, auch man sich als Nutzer durchaus fragt, ob solche Inhalte wirklich akzeptabel sein dürfen. Und wo endet das legitime Entfernen von Inhalten, und wo beginnt eine Zensur? Allein wegen der Komplexität dieser Problematiken ist es äußerst unwahrscheinlich, dass wir jemals ein durch die öffentliche Hand betriebenes soziales Netzwerk erhalten werden.
Alternativ besteht natürlich auch die Möglichkeit, seine Meinung auf klassischere Weise zu äußern: Blogs oder Podcasts können auch in Eigenregie erstellt und auf eigenen Webseiten gehostet werden. Dort kann Jede/r seine/ihre freie Meinung äußern, und solange keine rechtlich relevanten Äußerungen getroffen werden, ist eine Einschränkung der freien Meinung weder möglich noch erforderlich. Auch ich will schauen, dass ich diesen Blog wieder etwas vermehrt nutze – die Verbreitung der Inhalte kann ja dann immer noch über die sozialen Medien erfolgen, auch wenn ich das Gefühl habe, in letzter Zeit von immer mehr Bots abonniert zu werden.
Fazit
Die freie Meinung in sozialen Medien ist eine Illusion. Einerseits, weil soziale Medien lediglich ein großer virtueller Stammtisch ist, wo man sich primär mit Gleichdenkenden austauscht, andererseits, weil die freie Meinung keine Einladung zum offenen Diskurs darstellt, sondern einfach nur ein Freibrief ist, konsequenzenlos pöbeln zu dürfen. Die geplanten Änderungen an Twitter drohen, dieses Problem noch zu vertiefen. Ein Grund hierfür ist die Änderung der Funktion des blauen Häkchens. Konnte man daran bislang verifizierte Accounts erkennen, findet man dort künftig nur noch Accounts, die für die Nutzung von Twitter bezahlen. Dabei ist es unerheblich, ob der Accountinhaber wirklich derjenige (oder diejenige) ist, der/die vorzugeben scheint. Falls diese Accounts dann tatsächlich präferiert in der Timeline erscheinen, ermöglicht dies zudem eine Verschärfung des Problems der Filterblase. Zusätzlich können die User so nicht mehr ausschließen, durch von Fakeprofilen publizierte Desinformation zu konsumieren.
Wer diesem Risiko entfliehen möchte, sollte sich überlegen, ob es nicht andere Netzwerke gibt, auf denen man sich wieder einem freien Diskurs hingeben kann. Oder man veröffentlicht seine Meinung direkt auf eigenen Plattformen. Dort stellt die eigene freie Meinung kein Problem dar.